Buchtipp #1: «Klara und die Sonne» von Kazuo Ishiguro
Buchtipp #2: «Capricho» von Beat Sterchi
Buchtipp #3: «Über Menschen» von Juli Zeh
Buchtipp #4: «Sprich mit mir» von T. C. Boyle
Buchtipp #5: «Eurotrash» von Christian Kracht
Buchtipp #6: «Königskinder» von Alex Capus
Buchtipp #7: «Das Flüstern der Feigenbäume» von Elif Shafak
Der im Frühjahr 2021 erschienene Science-Fiction-Roman «Klara und die Sonne» des britischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro bringt uns die Geschichte der Erzählerin Klara in einer unbestimmten Zukunft der USA näher. Sie ist eine Künstliche Freundin, eine KF, dazu erschaffen, Kinder wohlhabender Familien auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden zu begleiten.
«Als wir neu waren, standen Rosa und ich in der Ladenmitte, wo auch die Zeitschriften auslagen, und hatten den grösseren Teil des Schaufensters im Blick.» Ein kurzer Einblick in die Gedanken Künstlicher Intelligenz, fähig selbst zu denken, selbst zu entscheiden und doch nicht selbst zu leben.
Klara wird zur Weggefährtin von Josie, einem 13-jährigen Mädchen, die mit ihrer Mutter und der Haushälterin in einem Anwesen zwischen weiten Feldern wohnt, welches für Klara zu Wohnort und Arbeitsplatz zugleich wird. Der Roman eröffnet eine ungewöhnliche und ungleiche Freundschaft zwischen zwei Figuren, eine mehr Mensch als die andere, zumindest auf den ersten Blick.
Kazuo Ishiguro kreiert in seinem Roman eine Welt der fortgeschrittenen Digitalisierung und gesellschaftlichen Entwicklung. Nicht nur Künstliche Intelligenz gehört in dieser Welt zur Normalität, auch die Manipulation des Menschen ist Teil der dystopischen Darstellung von Mensch und Maschine, beziehungsweise den Übergängen dazwischen. Die Schwimmflügel liegen bereit.
Illustration:
Matthias Liechti
(Instagram: @matthias_liechti)
Erfrischend. Klara erlaubte mir einen Blick durch ihre Augen, durch die eines künstlichen Wesens, und eine frische Sicht auf das alltägliche Geschehen. Ökologische oder soziale Themen finden dadurch auf einer Ebene statt, die als Mensch nicht mehr fassbar sind. Dies hat zur Folge, dass ich mich in Klaras Situation hineinversetzen musste, um die Umstände zu verstehen oder das Nichtverstehen zu begreifen.
Moralisierend. Die Geschichte faszinierte mich bis zum letzten Satz! Die Konfrontation mit moralischen Fragen und die Abhandlung schwieriger Situationen klingen noch immer nach und werden nie in Vergessenheit geraten.
Verständlich. Die Sprache von Kazuo Ishiguro trägt entscheidend zur Kurzweiligkeit des Romans bei – über ca. 350 Seiten durchaus nicht selbstverständlich. Die Absätze gehen unkompliziert und fliessend zueinander über, Spass beim Lesen ist vorprogrammiert!
Schleppend. Dies soll nicht allzu negativ aufgefasst werden, jedoch als Anmerkung hier angefügt werden. Stellenweise zieht sich die Handlung über längere Zeit hin; wen dies nicht stört, diesen Teil bitte unbedingt vergessen!
Dringende Empfehlung für Science-Fiction Fans, Zukunftsdenker und alle, die eine anregende Geschichte geniessen wollen.
«Kartoffeln wollte ich setzen! Zum ersten Mal!», erläutert der Protagonist und Erzähler in Beat Sterchis Roman «Capricho» zu Beginn seiner Arbeit im «huerto», seinem Gemüsegarten im Nordosten Spaniens. Morella, so heisst das kleine Dorf, ist das jährliche Ferienziel sowie Arbeitsort des Hobbygärtners und Schriftstellers. Munter dokumentiert er seinen Alltag: Die Besuche im Dorf, um Zeitungen zu kaufen, die Arbeit in seinem bewässerten Garten und die Interaktionen mit den Bewohnern, die seine Bemühungen erkennen – oder besser, seine Versuche tatkräftig zu unterstützen wissen. Den roten Faden für sein wirkliches Schreibvorhaben findet er jedoch nicht, die entsprechende Laune (span. «el capricho») stellt sich nicht ein.
Die episodischen Kapitel des Romans werden mit geselligen Charakteren, alltäglich scheinenden Vorkommnissen und dem täglichen Leben angereichert – den Leserinnen und Lesern sozusagen nach der Ernte zum Verzehr angeboten. Beat Sterchi bietet durch die Augen seines Erzählers eine malerische Landschaft an, an Authentizität fehlt es im Roman nicht. Die diversen sprachlichen Einschübe auf Spanisch, welche direkt übersetzt werden, entführen in eine mediterrane Welt, in Ferienträume, in die Ferne und ins Unbekannte.
Authentisch. Wer diesen Roman liest, lässt sich bewusst in einen spanischen Gemüsegarten entführen. Hacken, buddeln, jäten, sähen und wässern gehören zum Grundwortschatz sowie sprechen, schreiben und lachen zugleich. Jederzeit begebe ich mich erneut nach Spanien, in die gleissende Sonne, den giessenden Regen. Der tropfende Schweiss nach getaner Arbeit, das kühle Getränk zum Abschluss eines erfolgreichen Tags!
Entschleunigt. Der Klappentext trifft das Lesegefühl von «Capricho» perfekt. «Capricho ist ein Buch voller Weisheit, ein Buch des Innehaltens und der Entschleunigung.» Besser kann man es fast nicht beschreiben: Die Ruhe, die während der Lektüre aufkam, liess mich im Sofa versinken (oder abends im Bett Wurzeln schlagen).
Lebendig. Die aufkommende Ruhe darf dabei nicht als Langeweile verstanden werden. Beat Sterchi führt mich durch detailliert beschriebene Abläufe, erschafft dadurch Bilder während dem Lesen, die mich die Umgebung wahrnehmen und an der Arbeit teilnehmen lassen. Als Vorgeschmack hier der erste kurze Satz des Buches, der bereits ein genussvolles Ambiente herbeiruft: «Der Ginster blühte.» Wahnsinnig!
Dringende Empfehlung für (Hobby-)Gärtner, Entschleuniger und alle, die den sonnigen Süden im Winter vermissen werden.
Bracken, Bundesland Brandenburg. Dora, Marketingspezialistin bei der Agentur «Sus-Y», flüchtet während der Corona-Pandemie vor einer grossen Stadt, einem verrückten Mann und einem drohenden Kollaps der Gesellschaft in ein Gutsverwalterhaus auf dem Land. Sie steht in ihrem Garten – ihr Eigentum, ihr Land – und verliert sich in sich selbst, in ihrem Drang nach Arbeit, in reinster Überforderung. «Ist das dein Hund?», nimmt sie nebenbei war und sucht nach der Quelle des Geräuschs und ihrer Hündin, die sich eben erst neben ihr befunden hat. Die Antwort auf ihre Fragen findet sie auf der anderen Seite der Mauer bei ihrem Nachbarn Gote durch den Ausruf «Hey! Ob das dein Scheissköter ist!» begleitet.
In ihrem neusten Roman «Über Menschen» entführt Juli Zeh ihre Leserinnen und Leser in eine fiktive Corona-Pandemie und eine kleine Dorfgemeinschaft, in welche sich ihre Protagonisten, Dora – begleitet von ihrer Hündin Jochen-der-Rochen –, versucht oder gezwungen sieht zu integrieren. Die progressive Städterin findet sich in einem See von Charakteren wieder, Gleich- und Andersdenkende fügen sich zu einem Ganzen zusammen.
Gegenwärtig. Von Beginn weg wird klar, dass sich Dora in derselben Situation befindet, in der wir uns ebenfalls seit bald zwei Jahren befinden. Die Corona-Pandemie hat Deutschland erreicht und treibt Dora aus der Stadt aufs Land, die Ruhe des kleinen Dorfes wird kontrastiert mit dem Hochstress-Alltag, den sie bis anhin erlebt hat. Der Fluch der reinen Leistungsgesellschaft verfolgt sie jedoch auf Schritt und Tritt: «Weitermachen. Nicht nachdenken.» Die ersten zwei Worte des Romans treffen den aktuellen Zeitgeist perfekt und erinnern mich daran, mal die Beine hochzulegen und auszuspannen.
Launisch. Ob exzentrisch, egoistisch, aufbrausend oder schüchtern, die Vielfalt der Persönlichkeiten im Roman scheint lediglich einen Würfelwurf entfernt und in einer Geschwindigkeit materialisiert, die das Lesen zum Genuss macht. Ich war fasziniert von der Komplexität und Einfachheit der Charaktere zugleich. Sie sind mir so vertraut, als könnte ich im Migros mit ihnen den Nachmittag verplaudern.
Verständnisvoll. Der Titel des Romans trifft den Nagel auf den Kopf. Dora findet sich nicht unter Gleichgesinnten wieder, die Vorstellungen und Erwartungen decken sich gegenseitig nicht. Trotzdem steht einem Miteinander nichts im Weg. Juli Zeh erinnert mich daran, dass zwischen schwarz und weiss ein weites Meer an Grautönen existiert und alle ihren Teil am Ganzen erfüllen.
Malerisch. Juli Zehs Schreibstil lässt nicht nur Figuren lebendig erscheinen. Beschreibungen von Orten, von Gegenständen und Situationen, in denen sich Dora öfters mal befindet, scheinen vor eigenen Augen zu geschehen. Die fliessende Sprache erschafft ein süffiges Werk, Seite für Seite schwindet dahin und hinterlässt bleibende Eindrücke.
Dringende Empfehlung für Gesellschaftsinteressierte, Plaudertaschen und solche, die Corona gerne mal aus anderen Augen betrachten wollen.
Studentenwohnheim, Kalifornien, alleine. Eigentlich sollte Aimee ihre Aufgaben erledigen und lernen, schliesslich will sie mit ihrem Studium in Frühpädagogik den Weg als Lehrerin betreten. Doch sie verliert sich – die gekochten Fertig-Ramen in den Händen haltend und gemächlich auf dem Sofa sitzend – im Sog des Fernsehers; ein Professor mit einem Affen hat es ihr angetan. Verwundert mit offenem Mund, eine Nudel baumelt ihr von der Lippe, bestaunt sie den Affen – nein, den Schimpansen –, und folgt seinen Erläuterungen. Der spricht mit ihm!
«Wir suchen studentische Hilfskräfte für ein Pflegeprojekt, keine Erfahrung erforderlich, 10-20+ Wochenstunden – Guy Schermerhorn», liest sie danach am Aushang an der Universität. Das ist doch der Professor aus dem Fernsehen! Kurze Zeit später hat sie einen Schimpansen im Arm, der sich gerade davonmachen wollte.
T. C. Boyle schickt seine Leserinnen und Leser in seinem diesjährig erschienenen Roman «Sprich mit mir» auf die turbulente Entdeckungsreise von Aimee, der Studentin, und Sam, dem «sprechenden» Schimpansen. Wissenschaft und Wirtschaft treffen zähnefletschend aufeinander und finden in einem tierischen Bewusstsein ihren Fluchtpunkt.
Überraschend. Was haben SCHWARZE KÄFER mit dieser Geschichte zu tun? Scheinbar so einiges, denn beim Lesen verfolgt man nicht nur Aimee, sondern versetzt sich ebenfalls in die Gedanken von Sam hinein, einem Schimpansen, der die Gebärdensprache beherrscht. Vorerst verwirrend überzeugten mich die Darstellungen nach kurzer Zeit. Der Blick auf die Menschheit aus den Augen eines denkenden Tieres eröffnet eine selbstreflexive Ebene. Ethik und Moral werden dabei durch eine animalische Präsenz erweitert.
Realistisch. Wie bereits erwähnt, treffen in diesem Roman Wissenschaft und Wirtschaft kritisch aufeinander und stellen die Begrenzung wissenschaftlicher Möglichkeiten aufgrund finanzieller Einschränkungen oder Abhängigkeiten wirkungsvoll dar. Die Dringlichkeit wird während der Lektüre durchaus evident und begleitet die Erzählung bis zum Schluss. Durchaus gekonnt eröffnet T. C. Boyle seinen Leserinnen und Lesern eine unerwartete Perspektive auf die Thematik des Tierschutzes.
Motivierend. Insbesondere die Figur von Aimee beeindruckte mich und liess mich das Buch nicht aus den Händen legen. Ihre anfängliche Schwerfälligkeit entwickelt sich durch das Betreuen und Zusammenleben mit Sam zu einem überzeugenden Enthusiasmus, der ansteckend wirkt.
Erzählerisch. T. C. Boyle kann Erzählen! Dies ist durchaus keine bahnbrechende Feststellung, wenn man seine vergangenen Werke bereits kennt. Er führt seine Leserinnen und Leser mit ausdrucksvoller Sprache durch die Geschichte und fordert sein Publikum gleichzeitig dazu auf, über ein heikles Thema nachzudenken.
Dringende Leseempfehlung für Tierliebhaber, Nachdenker und alle, die vor einem Affentheater nicht zurückschrecken.
Christian Krachts Roman «Eurotrash» begleitet einen Sohn – der denselben Namen trägt wie der Autor – und seine Mutter, eine Plastiktüte voller Geld in der Hand, auf einer Reise durch die Schweiz. Dass in dieser Geschichte einzelne biographische Ereignisse genutzt und verarbeitet wurden, wird mit der Erwähnung von Krachts Roman «Faserland», 1995 erschienen, sofort klar. Kracht schreibt auf der ersten Seite seines Romans: «Dazu muss ich ausserdem sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen mitten auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.» Dieser Endpunkt, Zürich, dient in Eurotrash als Ausgangspunkt der Erzählung und Quelle einer kritischen Betrachtung von Reichtum und Macht.
Nachdenkend. Die Schilderungen des Protagonisten zum Vater, zur Nazivergangenheit seiner Familie und zur jungen Mutter – kontrastiert mit derselben, die ihn auf der Reise begleitet – widerspiegeln das Nachdenken eines jeden, Leserinnen und Leser inbegriffen, über die eigene Geschichte und das, was noch werden soll.
Unterhaltsam. Christian Kracht, der Protagonist, und seine Mutter geben ein ungleiches Duo ab, was sich auf urkomische Weise äussert. Die Interaktionen und Dialoge zwischen Mutter und Sohn sind ein wahrer Genuss und kamen mir, Krachts Schreibstil soll hier durchaus gelobt werden, überaus natürlich vor. Ob Lob oder Tadel, Zustimmung oder Ablehnung, Glück oder Verzweiflung, Christian Kracht (der Protagonist) und seine Mutter finden immer die richtigen Worte, um die Authentizität dieser fiktiven Beziehung aufrechtzuerhalten.
Genüsslich. Wenn hier bereits Lob gegenüber Krachts Schreibstil ausgesprochen wurde, soll dem gleich noch etwas folgen. Hatten Sie schon einmal das Gefühl, ein Buch kommt einfach nicht in die Gänge? Stotternd vorankämpfend wünschen Sie sich, die nächste Seite, das nächste Kapitel, das Ende des Buches zu erreichen, damit Sie das Gesamtbild der Geschichte in Einem fassen können. Nicht so bei Kracht und «Eurotrash». Kaum haben Sie mit dem Buch begonnen, werden Sie den Buchrücken bereits erreicht haben und die Geschehnisse bei Ihren guten Leseerinnerungen abgespeichert haben. Die übersichtliche Handlung, lebendigen Figuren und der gewisse Witz Krachts hinterlassen garantiert einen bleibenden Eindruck.
Dringende Leseempfehlung für Wenigreisende, Humorverliebte und alle, die sich von Herrn Kracht verzaubern lassen wollen.
Der Roman «Königskinder» des in Olten wohnhaften Autors Alex Capus erzählt die Geschichte von Max und Tina und deren Auseinandersetzung mit Dunkelheit und Kälte, Beisammensein und Frust sowie mit Langeweile und einer Lösung dafür. Kurzum: Sie stecken in ihrem Toyota zu später Stunde im Schnee fest und können ihren Ausflug erst am nächsten Morgen fortsetzen. Max erzählt dabei seinerseits eine «wahre» Geschichte von Jakob und Marie, einem unscheinbaren Liebespaar zur Zeit der Französischen Revolution, um Tina den Aufenthalt im festgefahrenen Fahrzeug zu erleichtern. Es folgt eine historische Binnenerzählung, verwoben mit humorvollen Einschüben aus dem Innern eines Blechkastens, der sich auf einer Gebirgsstrasse verirrt hat.
Historisch. Ein Schweizer Kuhhirte zur Zeit der Französischen Revolution. Mehr gibt es dazu fast nicht zu berichten, ausser vielleicht ein Ausschnitt aus dem Buch anzufügen: «Wenn Jakob morgens nach dem Melken die Stalltür öffnet, tritt als Erstes die Leitkuh ins Freie, gefolgt von der Stellvertreterin der Leitkuh und der Stellvertreterin der Stellvertreterin; den Abschluss bilden die Kälber.» Es handelt oft von Kühen…
Fesselnd. Wahrscheinlich hat es jeder schon einmal erlebt. Als Kind (oder als Erwachsener) sitzt oder liegt man auf dem Sofa, auf dem Bett oder versucht es sich im Auto bequem zu machen und einer Person beim Erzählen einer Geschichte zuzuhören. Die Rahmenerzählung, das Erzählen der Geschichte durch Max, ist für mich der Star im Roman. Mit leuchtenden Augen denke ich an Personen zurück, deren Fähigkeit, eine Geschichte spannend zu erzählen, von niemandem übertrumpft werden kann. Kennen auch Sie eine solche Person?
Abwechslungsreich. Historische Romane sind normalerweise nicht so mein Ding. Doch in diesem Fall muss ich eine riesige Ausnahme machen. Jedes Mal, wenn mir die Erzählung von Max schon fast ein bisschen zu viel wurde, konnte mich die Rahmenerzählung zum perfekten Zeitpunkt wieder an den Roman fesseln. Die Art, wie Alex Capus seine kleinbürgerlichen Figuren miteinander interagieren lässt und wie sie sich über die erzählte Geschichte äussern, ist auf eine humorvolle und realistische Weise gelungen. Hier ist wahrscheinlich noch ein Hinweis auf Alex Capus’ Buch «Mein Nachbar Urs» angebracht, indem er es ebenso versteht, diese Dynamik in «alltäglichen» Situationen zwischen Mitmenschen ausgezeichnet darzustellen.
Dringende Leseempfehlung für RevolutionärInnen, RomantikerInnen und alle BewohnerInnen der Stadt Olten. Ja, Sie haben richtig gelesen: ALLE aus der Stadt Olten!
Zypern 1974, ein Land und eine Liebe werden aus der Bahn geworfen. Elif Shafak erzählt in ihrem Roman «Das Flüstern der Feigenbäume» aus dreifacher Perspektive. Aus der Gegenwart, der Vergangenheit und der scheinbar unendlichen Erfahrung eines Baums. «Mal etwas anderes», dachte ich mir, als ich das Buch zum ersten Mal zu Händen nahm und anfing zu blättern. Auf die turbulente Fahrt, die sich schlussendlich in diesem Roman ergibt, war ich kein bisschen vorbereitet. Elif Shafak löst die Geschichte durch Schichten auf, mal etwas aus der Gegenwart, ergänzt durch die Vergangenheit und jeweils mit einem passenden Kommentar durch einen wurzelschlagenden Erzähler versehen, der Lesenden einen tieferen Einblick in die sich langsam entfaltenden Geschehnisse gewährt. Zypernkonflikt, Liebe und Tod, Auswanderung und das Überwintern eines Feigenbaums – Shafak verknüpft verschiedene Themen gekonnt in einem Gesamtwerk, dessen historische Fakten, liebevollen Momente und erschreckenden Ereignisse stets in meinem Kopf widerhallen.
Persönlich. Es ist immer wieder ein Genuss, wenn es Autorinnen und Autoren schaffen, ihre Personen durch individuelle Charaktere und Verhaltensweisen zum Leben zu erwecken und man vollkommen in dieser Geschichte versinken kann. Shafak erreicht dies in diesem Roman meisterlich. Jede Person erhält ihre eigene Identität, Ecken und Kanten werden akzeptiert, tiefe Abgründe und schwindelerregende Höhen zelebriert.
Enthüllend. Manchmal lohnt es sich, etwas nicht von Beginn weg auszuplaudern. Ebenso verhält es sich in diesem Roman. Elif Shafak wählt bewusst die Momente, in denen ein Ereignis geschehen oder bisher Unbekanntes aufgedeckt wird. Die Fähigkeit, Erwartetes zu bestätigen sowie Unerwartetes wie einen Kometen einschlagen zu lassen, zählt zu den absoluten Highlights dieses Romans. Man fühlt sich wie auf einem Schiff, umgeben von Wasser, weit und breit kein Land in Sicht. Und plötzlich wird man von einer gewaltigen Welle erfasst.
Langsam. Langsam? Was soll das heissen? Da bin ich genau Ihrer Meinung, denn dies war mir während der Lektüre wahrscheinlich auch nicht bewusst. Der Roman benötigt etwas Zeit, um so richtig in die Gänge zu kommen. Wer jedoch das dafür nötige Sitzfleisch und den erforderlichen Schnauf dafür mitbringt, wird schlussendlich mit einer wunderbaren Liebesgeschichte belohnt, die durch historische Einblicke ins Zypern der 70er-Jahre und eine Rahmengeschichte zu Heimat und Auswanderung abgerundet wird. Bleiben Sie dran, es lohnt sich definitiv!
Dringende Leseempfehlung für Geduldige, Schwärmende und diejenigen, denen bei der Nennung von Feigen das Wasser im Mund zusammenläuft.
Bovec 1919, eine Frau inmitten des Ersten Weltkriegs. Zora del Buono führt in ihrem Roman «Die Marschallin» durch das Leben ihrer Grossmutter, Zora Del Buono, und ihrer Familie. Um den Charakter ebendieser Zora Del Buono darzustellen, bediene ich mich hier aus dem Buch: «Wäre sie ein Mann gewesen, sie wäre Major geworden, eher noch Marschall, vielleicht sogar Staatspräsident. So wie er. Wie Josip Broz Tito.» In diesem kurzen Zitat wird grundsätzlich zusammengefasst, was das Buch den Lesenden zu bieten hat. Eine tief ausgefleischte Persönlichkeit einer politisch aktiven Powerfrau, die Aufmerksamkeit fordert, gesehen und gehört werden will. Zora del Buono, die Autorin, führt mit einem angenehmen Schreibstil durch die Jahre (1919-1980) und entfaltet dabei eine dynamische Familiengeschichte, die fast nie zur Ruhe kommt. Eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, von Träumen und Vorstellungen, die gewaltsam zerbersten und schliesslich im Sand versickern.
Ein Blick zurück. Zora del Buono erschafft im Roman mit ihrer Grossmutter eine fassbare, gar erlebbare Person. Dieser Blick in die Vergangenheit und die Darstellung eines Charakters fasziniert mich noch immer. Die Freude, die Wut, die Verwirrung, welche durch die Jahre führen, erwecken Zora Del Buono zum Leben, ermöglichen einen Zugang zu einer unbekannten Person, rückt diese immer weiter in die Nähe der Lesenden. Ihre Eigenheiten, Ecken und Kanten, werden durch die kunstvolle Beschreibung durch die Autorin sichtbar, was im Endeffekt das natürliche Wesen eines Menschen zu widerspiegeln vermag.
Eingebettet. Die Momentaufnahmen durch die Geschichte, die historischen Meilensteine, welche Zora del Buono im Roman wiedergibt, werden durch die Motivationen und Überzeugungen der Protagonistin optimal ergänzt. Es handelt sich hierbei um eine persönliche Sicht auf historische Ereignisse, es werden Meinungen kundgetan, es wird gewettert, diskutiert und gefordert. Zora Del Buono verfolgt ihre perfekte Zukunft. Und niemand kann ihr dies nehmen. Die Marschallin war eine Frau, «die Widerworte nicht duldete, sie aber provozierte. Man hat sie gefürchtet und bewundert, viele haben sie verehrt.»
Stereotyp? Von wegen. Hier handelt es sich nicht um eine Erzählung eines Mauerblümchens auf der Suche nach ihrem Prinzen. Es wird eine Frau dargestellt, welche durchaus real wirkt. Mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Lastern und eigenen Zielen, welche ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt werden. Es handelt sich weder um ein Happy End noch um eine Tragödie in 5 Akten, sondern um einen Lebensweg, der erzählt werden will.
«Wilhelm bebt, wirft uns einen wütenden Blick zu, aber er sagt kein Wort. Er wendet sich ab und verschwindet im Stall.» Diese zwei Sätze sagen bereits mehr über den Roman «Tell» (erschienen im Februar 2022) von Joachim B. Schmidt aus, als wir hier jemals schreiben könnten. Überhaupt ist es schwierig, diesen Roman präzise in Worte zu fassen, festzuhalten, was der Autor mit diesem altbekannten Material macht und weshalb dies so sensationell gut funktioniert. Doch vorerst: Alle bekannten Personen aus dem Mythos sind noch vorhanden. Doch ein neuer Tiefgang verleiht jedem einzelnen eine persönliche Identität, einen eigenen Charakter, der die Erzählung von Anfang bis Schluss belebt. Hierin liegt wahrscheinlich auch der Reiz, das Packende, der Grund, weshalb dieses altbekannte Material erneut gelesen werden muss.
Persönlich. Wie oben bereits beschrieben, erhält jede Figur im Roman ihre eigenen Momente, um sich zu äussern und auf die Handlung einzuwirken. Schmidt lässt jedes Kapitel aus der Perspektive einer Person ablaufen, wodurch die Leserin oder der Leser jeweils einen Einblick in die Gedanken dieser erhält. Parallel hierzu gelingt es dem Autoren, die Handlung ohne Unterbrüche weiterzutreiben und diese bis zum Ende des Romans als eine Einheit zu präsentieren.
Heldendrama? 1804 schloss Friedrich von Schiller sein Drama ab und nahm damit die Legende um den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell und den Kampf gegen die Habsburger und den Landvogt Hermann Gessler auf. Doch handelt es sich beim Roman Schmidts nicht mehr nur um ein Auftürmen eines Innerschweizers gegen die Übermacht der Habsburger, sondern ebenfalls ein Kampf gegen sich selbst, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Schwierigkeit des ständigen Voranschreitens eines unsicheren, geplagten, zutiefst verletzten Helden.
Schwungvoll. Wenn hier der Roman und dessen Handlung bereits ausführlich gelobt werden, darf dasselbe beim Schreibstil von Joachim B. Schmidt nicht vergessen gehen. Denn die Strategie, sämtliche Kapitel aus der Sicht einer einzelnen Figur zu schreiben und die Geschichte auf diese Weise voranzutreiben, während jeder Person ein eigener Charakter verliehen wird, ist faszinierend. Die Fähigkeit Schmidts, unterschiedliche Nuancen und Details sowie charaktergetreue Denkvorgänge darzustellen, macht diesen Roman unwiderstehlich.
Meine wöchentlichen Stationen führen mich an faszinierende Orte der Nordwestschweiz, drei Kantone darf ich als Zufluchtsorte (oder einfach als Arbeits- und Wohnorte) bezeichnen. Meine Woche beginnt in Basel, das Studium in Germanistik und Geschichte an der Universität erfordert meine vollste Aufmerksamkeit; nächster Halt ist das stets sonnige (lies: neblige) Solothurn, wo ich mich tagsüber bei Pro Senectute für das Alter engagiere. Meine Abende und Wochenenden verbringe ich in Laufen, Kanton Baselland, Pufferzone zwischen den zwei Städten und der Ort, den ich mein wohliges Zuhause nennen darf. Eines haben alle Stationen gemein: sie werden jeweils mit einem Buch in der Hand erreicht, reissen mich aus der fiktiven Welt, sobald die Durchsage erklingt – «Nächster Halt Basel, Solothurn, Laufen».
Der Pro Senectute Buchtipp erscheint in einem dreiwöchigen Rhythmus, behandelt aktuelle Neuerscheinungen sowie Bücher, die auch nach Jahren noch zu überzeugen wissen. Ob Schweizer oder internationale Autorinnen und Autoren, lassen Sie sich in fremde Welten entführen; ich freue mich auf Ihre Anregungen oder Beitragswünsche.